Als wir noch jung waren
Bei meinen regelmäßigen vormittäglichen Kaffeehausbesuchen kam ich mit einem anderen Gast in ein Gespräch, und da er auch nicht mehr jung war, kamen wir sehr bald auf die Vergangenheit zu sprechen, auf unsere Vergangenheit!
Wenn man alt ist, kommt man immer schnell auf "die Vergangenheit" zu sprechen, die für uns immer bedeutender ist als die Zukunft. Das ist so und das ist wohl auch richtig und gut.
In diesem Fall stellten wir, die wir noch in die Kriegszeiten hineingeboren waren, fest: seit diesem letzten Krieg sind so viele Jahrzehnte im Frieden vergangen wie es vor uns noch keine Generation erlebt hat.
Die meisten unserer Mitbürger kennen keinen Krieg, sondern nur den Frieden. Das ist gut und eigentlich ein Wunder. Wenn wir von "früher", von "unserem früher" sprechen, denken wir an Entbehrungen, an Hunger, an Gefahren, Fliegerangriffe und un-glaubliche Zerstörungen. Unser Kontinent, unsere Städte, unsere Häuser wurden in wenigen Jahren sinnlos zerstört. Millionen Menschen starben, junge Menschen, die gerade mit dem Leben begonnen hatten. Millionen hatten keine Chance, alt zu werden.
Ich kann mich an eine Situation mit-ten im Krieg erinnern: Ich hockte auf dem Dach des Hauses meiner Großeltern. Ein großes Haus, mit mir ganz oben drauf. Denn ich versuchte, dieses Dach notdürftig wieder abzudichten, es hatte bei einem Fliegerangriff stark gelitten.
Als ich dort oben hockte, kam Fliegeralarm wie jeden Tag, wie mehrfach am Tage. Ich blieb oben auf dem Dach sitzen in der Hoffnung, dass nicht Bremen, meine Stadt, angegriffen wird, sondern dass sie weiter fliegen, um andere Ziele anzugreifen.
Bald begannen das Donnern der Flak und wenig später das Dröhnen der anfliegenden Flugzeuge. Gar nicht sehr hoch tauchten sie am Himmel auf, ein kleiner Verband, unbeirrt auf Bremen zu, genau in meine Richtung. Kein deutscher Abwehrjäger war zu sehen, unbeirrt zogen sie ihre Bahn.
Ich erkannte viele Einzelheiten, die vier Motoren eines jeden Flugzeugs, erkannte die Kanzel mit den Piloten und dann, bevor der Verband gefährlich nah gekommen war, sah ich die Bombenlast als graue Schatten herab-fallen, hörte ich das Brausen des Abwurfs und gleich darauf das Krachen und Bersten des Bombenteppichs am Boden. Eine riesige Rauch- und Staubwolke stieg auf, über meinen Kopf hinweg zogen die Bomber ihre Bahn, drehten bei, um zurückzukehren. Für mich war die Gefahr vorüber, diesmal vorüber.
In den Augenblicken der großen Gefahr, der Ungewissheit, hatte ich nur gebannt nach oben, der Gefahr entgegen gestarrt, ohne zu denken, ohne viel zu empfinden. Aber hinterher, da kamen mir die Gedanken, da grübelte ich: Wie soll ich, wie sollen wir alle diese täglichen, ja stündlichen Gefahren lebend überstehen? Die Wahrscheinlichkeit getroffen und getötet zu werden, ist doch weitaus größer als die, am Leben zu bleiben.
Das dachte ich ganz nüchtern und eigentlich ohne Angst, denn ich war ja gerade einmal wieder davongekommen. Ich war ganz gewiss kein Held und ich konnte große Angst haben, aber ich hatte mich, wie viele andere, an die Gefahr gewöhnt, nahm sie nur noch eingeschränkt wahr. Ich hatte Glück, großes Glück! Viele meines Jahrgangs traf es tödlich, riss sie aus dem Leben, ehe es richtig begonnen hatte.
Das war eine schwere Zeit, so schwer, so unbegreiflich, dass ich sie heute meinen Kindern, meinen Enkel, all den Menschen, die nie den Krieg erlebten, so schildern kann, dass sie in etwa ahnen, was "Krieg" bedeutet.
Es ist gut, dass sie es nicht wissen, es ist auch gut, dass ich mich erinnere. Es ist gut, dass trotz dieser alten Schrecken mein Glaube an das Gute nicht verloren gegangen ist und dass ich glaube: uns bleibt immer die Hoffnung!
Günter Beckröge